Alexandra Le Faou

»I know it when I see it«
– Sicher?

»Die Frage ist,« sagte Alice, »ob man es schafft,
dass Wörter so viele unterschiedliche Dinge bedeuten.«
Lewis Carroll, »Durch den Spiegel und was Alice dort fand«

AF/CH – Adib Fricke trifft Christian Hasucha, so der Titel der Ausstellung in der Galerie Nord | Kunstverein Tiergarten in Berlin, klingt wie zwei Teile einer und derselben Formel: Erst kommt ein Rätsel, dann dessen Auflösung. Diese Ankündigung sollte man jedoch nicht als programmatisches Prinzip der Ausstellung verstehen. Wie vieles in »AF/CH« ist der Titel vielmehr ein erstes Indiz für die vielschichtigen Fragestellungen, die Fricke und Hasucha dem Besucher gemeinsam vorlegen: eine Einladung ins Ungewisse.

Die innere Wanderung

Die Werke, die alle eigens für die Ausstellung in der Galerie Nord geschaffen wurden, zeugen von einer einzigartigen kreativen Begegnung zwischen den zwei Künstlern, aber auch von einer durchdachten Auseinandersetzung mit der Topographie der Galerie. Die Kombinationsarbeiten, die aus jenem Prozess entstanden sind, besetzen den Raum mit fast spielerischen Gesten und nutzen zugleich das Potential der großzügig nach außen hin offenen Fensterfläche vergnüglich aus.

Der 17 Meter lange Doppel-T-Träger, der Dummy eines IPE 2100, steht zentral in der Ausstellung und erstreckt sich wie bei einem Fluchtversuch durch die Tür bis in die Eingangslobby hinein. Die Grenzen zwischen Innen und Außen verschmelzen in den breiten Fensterflächen der Galeriefassade; das überdimensionierte Exponat liegt wortwörtlich an der Schwelle zwischen Ausstellungs- und öffentlichem Raum.

Für die Künstler ist der Doppel-T-Träger der Ort, wo die Essenz ihrer jeweiligen Praxis zusammenkommt, wo Wort und Objekt unzertrennbar werden. Bekannt für seine Öffentlichen Interventionen musste Christian Hasucha bei der Galerie Nord eine neue Beziehung zum Raum und infolgedessen auch zum Besucher erarbeiten; ein doppeldeutiges Verhältnis, das er 2008 beim Projekt »+28,33 m3« in Berlin-Moabit bereits erforschte, bei dem ein Galerieraum in einen Außenraum umgewandelt wurde. Für Adib Fricke, der seit Ende der 80er Jahre mit Bedeutung und Wahrnehmung von Wörtern und Text arbeitet, ist der öffentliche Raum ebenfalls ein bekanntes Experimentierfeld, so z.B. bei dem Projekt ➚ Your Brain is Your Brain, das 2013 in Berlin auf Großflächenplakaten und anschließend in Ingolstadt in Bussen des Nahverkehrs zu entdecken war.

Dennoch: Der Innenraum ist die Fläche – horizontal wie vertikal, auf der sich die Kombinationsarbeiten von Fricke und Hasucha entfalten. Man wandert an den Exponaten vorbei, versucht vorwärts und rückwärts den verstellten Maßstab der Garderobe und die Dimension des Doppel-T-Trägers aufzufassen, lässt den Blick entlang der Superwords und der Texte aus der Serie »Word Shadows« wandern. Physisch wie geistig muss der Besucher sich dem Wort REVLOTUION und dem beschnittenen Sessel annähern, die perspektivisch tief im letzten Raum der Galerie Nord aufgestellt sind. Das ultimative Signal, dass Fricke und Hasucha den Besucher aus seiner Komfortzone herausreißen wollen.

Die Irritation als Wahrnehmungsmodell

Egal wo die Besichtigung beginnt, man wird mit Werken konfrontiert, die die eigene Auffassungsgabe wie die gewöhnliche Wahrnehmung von Texten und Objekten des Alltags in Frage stellen. Gleich bei der überdimensionalen, im ersten Raum ausgestellten Garderobe, die mit dem rätselhaften Wortgebilde IOAN auf der Nebenwand eine gutwillige Harmonie bildet, wird der Blick verstört: Ist sie nicht zu groß für den Raum? Stimmt hier der Maßstab? Das die Möbelteile zusammenhaltende transparente Klebeband, der noch vorhandene Aufkleber aus dem Baumarkt sowie die Banalität des Materials verraten das künstliche und flüchtige Dasein des basierend auf einem Anzeigenfoto nachgebauten Möbelstücks. Das Alice-im-Wunderland-Syndrom setzt ein und löst da schon exemplarisch die Irritation aus, die sich durch die gesamte Ausstellung zieht.

Nicht ohne Ironie führt die rollende Metallleiter zum Superword PIHLOSOHIPE . Der Mechanismus der Entfremdung, den beide Künstler in ihrer jeweiligen individuellen Arbeit verwenden, erreicht in der Kombinationsarbeit eine weitere Dimension. Spielerisch könnten die Besucher sich gegenseitig die Frage stellen: »Ich sehe was, was du nicht siehst …«, denn die sonst klar definierte Deutung von Konzepten und Funktionalitäten wird verstört und damit auch unsere Wahrnehmungsfähigkeit hinterfragt.

Wie bei dem Surrealisten René Magritte ist die Darstellung des Gewöhnlichen immer wieder mit einem Störungselement verbunden, das unsere scheinbar sichere Erkenntnis vertrauter Dinge auf den Kopf stellt. Von dem auf einem Ausstellungssockel angebrachten Satzstück »seit ich weiß« über den Doppel-T-Träger mit dem ausgeschnitten Superword GEWIHSSEIT bis hin zu dem wie auf einem Stopp-Signal stehenden Satz »I know it / it when I / I see it« schlängelt sich die subversive Botschaft wie ein Motto durch die Ausstellung. Bei dem Doppel-T-Träger wird die verstellte Orthographie erst aus gewisser Entfernung sichtbar, etwa von der Straße aus. In der Installation »I know it / it when I / I see it« durchbricht der Hut, aus dem ein Stück ausgeschnitten ist, und der erst beim vollständigen Umrunden der Arbeit gesehen werden kann, die sichere Ordnung. Auch er kann als eine weitere Hommage an den belgischen Künstler gesehen werden. Fast unscheinbar, und doch mit einem Knall kristallisiert sich hier die Haltung, mit der Adib Fricke und Christian Hasucha uns durch ihre Kombinationsarbeiten konfrontieren. Die räumliche wie mentale Bewegung, die unvermeidlich Teil des Betrachtungsprozesses wird, ist nicht zuletzt das Ergebnis eines allgegenwärtigen Transformationsspiels, dem vertraute Wörter, Materialien und Gegenstände unterworfen werden.

Die Poesie der Transformation

1999 lässt Christian Hasucha beim Projekt »Die Pulheimer Rochade« eine Fläche an der Pulheimer Realschule gegen eine gleichgroße Fläche vor der 5 km entfernt liegenden Abtei im Ortsteil Brauweiler austauschen; im Geiste dieses ersten Experiments mit dem Vertauschen von Orten im öffentlichen Raum werden 2004 bei der »Münster-Coerde-Drehung« 100 m2 eines städtischen Platzes um 180 Grad gedreht. Das, was schon länger von Architekten und Stadtplanern anhand von CAD-Software am Computer praktiziert werden konnte, wurde zur Verblüffung der lokalen Bevölkerung in der realen Welt umgesetzt, ein analoges Copy and Paste in der Stadtlandschaft. Dieser Prozess der Permutation findet ein Echo in Adib Frickes Superwords. Bei diesen werden Buchstaben innerhalb eines Wortes vertauscht: PIHLOSOHIPE / GEWIHSSEIT / REVLOTUION, sie knüpfen an seine früheren Wortschöpfungen, die Protonyme, an. Was löst diese Transformation beim Betrachter aus? Sind das noch die uns bekannten Konzepte, die wir als solche auffassen und die wie bei alten Kinofassaden mit den austauschbaren Buchstaben auf Korrektur warten? Künstliche Konstrukte, die nach neuer Sinngebung rufen oder wie damals bei den Protonymen bedeutungslose Wortkonstruktionen, die zu einer Marke mutieren könnten? In beiden Fällen führt die durch die Künstler ausgelöste Irritation zu einer Form der geistigen Bearbeitung, die womöglich endlos weiter betrieben werden könnte.

Das Plastische der an die Wand gemalten Wörter wie auch der zusammengesetzten Gegenständen bildet zugleich das Material für das Manipulieren von Sinn und Form, dessen sich beide Künstler unterschiedlich und doch ähnlich bedienen. Zusätzlich stellt sich die Frage nach der Essenz dessen, was unser Gehirn visuell und kognitiv wahrnimmt. Ist der angeschnittene Sessel mit dem Schild daneben, auf dem REVLOTUION steht, noch ein Sessel? Könnte der aus Gipskarton gebaute und wie Stahl mit Rostschutzfarbe bemalte Doppel-T-Träger, der vom rätselhaften Begriff GEWIHSSEIT bewohnt ist, seine eigentliche Funktion ausüben? Das fragile Gleichgewicht, das subtil von den Arbeiten ausgeht, findet seinen Ausdruck im Konstruktionsprozess – z.B. bei dem mit Klebeband zusammengehaltenen Möbelstück – wie auch im Dekonstruktionsprozess, der u.a. für den Doppel-T-Träger beim Ende der Ausstellung bereits vorgesehen ist. Frickes und Hasuchas Arbeiten erschüttern die Beständigkeit vertrauter Wahrnehmungskonzepte und erwarteter Funktionalitäten von Alltäglichem. Sie erzählen von einer Welt, in der das, was wir gewöhnlich als zuverlässige Realität annehmen, sich unserer Erkenntnis zu entziehen beginnt.

Die im ersten Ausstellungsraum von Hasucha angebrachten und mit Frickes Wörtern aus der Serie »Word Shadows« kombinierten Lüftungsschlitze könnten als Sinnbild für das Flüchtige, ja das Vergängliche stehen, das jeder unserer Gewissheiten innewohnt und im Text seinen nostalgischen Ausdruck findet:
as a child I was
I was just the same
the same for a long
a long time

Die exakte räumliche wie grafische Harmonie, die aus dieser Arbeit hervorgeht, steht exemplarisch für das kreative Potential, das den gemeinsamen Transformationsprozess und somit auch die gesamte Ausstellung kennzeichnet. Die acht Formen von Kombinationsarbeiten, die in »AF/CH« zu sehen sind, werden Teile eines einzigen Korpus, sie sind Expressionen einer einheitlichen kreativen Kraft, die sich poetisch durch die Ausstellung zieht.

 

Katalogtext zu »AF/CH – Adib Fricke trifft Christian Hasucha«
Alexandra Le Faou lebt und arbeitet in Paris.
© 2017 Alexandra Le Faou und Adib Fricke/Christian Hasucha.